Der Weinstock trägt auch Trauben, blaue und ein paar grüne, doch sie verschwinden fast im dichten, gelbgrünen Laub. Schon kurz über dem Boden verzweigt sich der Weinstock und bildet lange Reben, sie reichen bis an den Rand der 1,22 mal 1,37 Meter großen Leinwand. Auf die Perspektive kam es dem Künstler offenbar nicht an. Alle etwa 300 Blätter zeigen den Betrachter·innen die Oberseite und alle, bis auf die allerkleinsten, sind beschriftet: "Lappland 1770" steht da in einem runden Beschreibfeld, "50 Jahre Jubiläum von Hhut 1772" in einem rechteckigen, "Berlin 1737" in einem herzförmigen. Manche der Aufschriften sind mit Zettelchen nachträglich angeklebt. Auch das Kreuz mit dem Erlöser, das den Stamm des Weinstocks ziert, ist aufgeklebt. Jesu' Blut, man kann es noch gerade erahnen, tropft herunter und nährt die beeindruckende Pflanze. Neben dem Kreuz, im ersten Blatt auf der rechten Seite, klebt ein Portrait: Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und Pottendorf (1700–1760), der Begründer der Evangelischen Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine. Gemeine in alter Schreibweise, ohne d.

Weniger Gemälde als Allegorie und Chronik

"Die Namen auf Weinblättern stehen für Orte der Brüdergemeinen in Deutschland und weltweit und auch Gedenktage und besondere Ereignisse sind verzeichnet, von der Gründung Herrnhuts 1722 bis 1773, ein Jahr vor der Abfassung dieser Darstellung. Die dunklen Beschreibfelder verweisen auf Gemeinden in Afrika, in Mittel- und Südamerika", erklärt Claudia Mai, die das Archiv der Brüdergemeine in Herrnhut leitet, der der Weinstock gehört. Der "Weinstock mit Reben für das ledige Brüderchorhaus in Herrnhut 1774", so der vollständige Titel des Werks, ist weniger Gemälde als Allegorie und Chronik. Es illustriert das Selbstverständnis der Brüdergemeine mit einem Satz aus dem Johannes- Evangelium: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. "Zugleich hat man mit diesem Werk versucht, den Neubeginn in Herrnhut und die Erfolge, aber auch die Misserfolge der Missionsarbeit der Glaubensgemeinschaft in einem Bild zusammenzufassen. Das macht seine Bedeutung aus", erklärt Mai. "Dort, wo etwas aufgeklebt ist, hat man vermutlich etwas korrigieren müssen."

Die Archivleiterin hat selbst zur Geschichte des Bildes geforscht. "Die Idee, die Anfänge der Gemeine in einem Baum darzustellen, geht auf Zinzendorf selbst zurück", erklärt sie. Sein Freund Friedrich von Wattewill (1700–1777) habe dann die Idee gehabt, einen Weinstock statt eines Baumes als Motiv zu nehmen. Ausgeführt wurde das Werk von Philipp Jacob Ferber (1705–1788) mit Aquarellfarbe und Tinte auf sechs Papierbögen, die an den Rändern überlappend zusammengeklebt und auf die Leinwand aufgebracht wurden. Ferber fertigte mehrere Weinstöcke in verschiedenen Varianten und Größen an, von denen einige wenige Exemplare erhalten sind.

handgemalter Weinstock
Der Weinstock zeigt deutliche Schäden: Risse in der Oberfläche, Ablösung von aufgeklebten Papieren, Durchdrücken der Nähte der Leinwandstücke, die sich unter dem Papier befinden. © Jörg F. Müller

Die Jahrhunderte sind am Herrnhuter Weinstock nicht spurlos vorübergegangen. "Seiner Widmung gemäß hatte er sehr wahrscheinlich einen sichtbaren Platz im Brüderchorhaus der Gemeinde Herrnhut", erklärt Mai. Alleinstehende Männer und Frauen – sie nannten sich Brüder und Schwestern – wohnten in sogenannten Chorhäusern, bestehend aus Arbeitsräumen, Räumen für religiöse Versammlungen und einem gemeinsamen Schlafsaal. Im Chorhaus war das Werk Staub, Licht und schwankenden Temperaturen ausgesetzt. Es ist teilweise stark verschmutzt und eingedunkelt, die Schrift verblasst, es gibt Risse und kleine Löcher, manche der aufgeklebten Papiere lösen sich, der Rand ist verknittert. Die Leinwand hinter dem Papier ist aus zwei Teilen zusammengenäht und diese Naht drückt sich durch das Papier.

Sorgsames Arbeiten mit Unterdruck

Als KEK-Modellprojekt gefördert, kam der Weinstock mit Reben zu Kati Böckelmann, Diplomrestauratorin im sächsischen Bretnig-Hauswalde. Sie reinigte das Bild zuerst trocken mit einem speziellen Schwamm von grobem Schmutz. Ganz hartnäckigen Stellen – zum Beispiel den punktförmigen Hinterlassenschaften von Insekten – rückte sie mit einem Skalpell zu Leibe. Dann entfernte sie den einfachen Holzrahmen. Für die gründliche Reinigung und das Ausbessern von Fehlstellen musste das Papier befeuchtet werden. "Papier verträgt das in aller Regel gut. Aquarellfarben, die älter als 80 Jahre sind, sind auch sehr stabil und Eisengallustinte sowieso", erklärt Böckelmann. "Aber Papier dehnt sich nach dem Befeuchten ganz anders aus als Leinwand." Deshalb musste die Leinwand vom Papier abgelöst werden. Nachdem es so freigelegt war, konnte die Restauratorin Knicke im Papier mit dem Falzbein begradigen und Fehlstellen und Risse mit einer Papier-Faser-Suspension ergänzen. "Das alles passiert auf einem Niederdrucktisch. Dort wird ein Unterdruck erzeugt, sodass die Feuchtigkeit herausgezogen wird und die Fasern in der Suspension sich gleichmäßig ausrichten", so Böckelmann. Mit einem breiten Pinsel strich sie schließlich angelöste Papierränder und Zettel wieder fest.

Restaurierungswerkstatt
Kati Böckelmann in ihrer Werkstatt. © Jörg F. Müller

Nun wird das Werk zwischen Filterkartons gepresst, getrocknet und wartet auf Entscheidungen über weitere Maßnahmen: Soll das Papier wieder auf die alte Leinwand aufgebracht werden oder auf eine neue? Soll es einen neuen Keilrahmen bekommen? Und wie weit sollen Schrift und Farben nachgearbeitet werden? Auf jeden Fall kommt noch eine Schicht Japanpapier auf die Rückseite als Zwischenlage zwischen Bild und Leinwand, um Spannungen auszugleichen und das Werk zu schützen. "Es ist natürlich immer eine Frage, wie stark man eingreifen möchte", erklärt Kati Böckelmann. "So wie das Bild jetzt aussieht, würde ich mir wünschen, dass wir noch ein bisschen mehr tun. Man kann die Schrift oft kaum lesen; ich stelle mir vor, dass Historiker oder Menschen, die das Bild in einer Ausstellung sehen, herantreten und dann enttäuscht sind, dass sie kaum etwas entziffern können. Ich möchte aber zurückhaltend eingreifen und die Oberfläche mit Vorsicht nur minimal bearbeiten, sodass sich der Inhalt dennoch wieder erschließen lässt." Wie lange es dann halten kann? Das komme natürlich auf Beanspruchung und Lagerung an. "Aber hundert Jahre bestimmt."

In der Tat ist die erste Ausstellung, in der der restaurierte Weinstock zu sehen sein soll, schon geplant: die Ausstellung zum 300-jährigen Jubiläum der Gründung Herrnhuts, des Orts unter der Obhut des Herrn, an dem die Brüder-Unität entstand. Am 17. Juni 1722 begannen drei evangelische Familien, die ihm Zuge der Rekatholisierung aus Mähren geflohen waren und auf dem Land des Grafen von Zinzendorf Zuflucht gefunden hatten, den Bau eines ersten Hauses. "Die Gruppe siedelte ein wenig entfernt vom Gutshof Zinzendorfs, an der Handelsstraße von Löbau nach Zittau und weiter nach Böhmen, denn es waren keine Bauern, es waren Handwerker, die da kamen, die mussten auch an Erwerbsmöglichkeiten denken", erklärt Wieland Menzel, der Koordinator für Kulturtourismus der Brüdergemeine. "Wir feiern jetzt also das Jubiläum der Ortsgründung. Die Brüdergemeine wurde offiziell erst 1727 gegründet, um dieses Jubiläum kümmern wir uns dann später."

"Zinzendorf wollte eine Erweckungsbewegung ermöglichen"

Das Programm, mit dem Herrnhut seinen runden Geburtstag feiern wird, ist vielfältig, unter anderem Konzerte, Vorträge und ein Jugendfestival stehen auf dem Programm. Der restaurierte Weinstock soll in einer Ausstellung im Völkerkundemuseum hängen, die Eröffnung ist für den 8. April 2022 geplant. Die Brüder-Unität, die, wie Mai betont, trotz des Namens eine Gemeinschaft von Männern und Frauen ist, ist heute eine selbstständige evangelische Kirche, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) assoziiert und Gastmitglied der Vereinigung Evangelischer Freikirchen. "Zinzendorf wollte eine Erweckungsbewegung ermöglichen", berichtet Claudia Mai. Aber dann seien doch Schritte in Richtung einer selbständigen Gemeinde unternommen worden. Heute hat die weltweite Brüder-Unität, International Moravian Church, Mährische Kirche, genannt, rund 1.700 Gemeinden in 40 Ländern und über eine Million Mitglieder.

historische Radierung
Die Ortschaft Herrnhut wurde 1722 offiziell gegründet. Seit 300 Jahren prägt die Herrnhuter Brüdergemeine das Leben und die Kultur. © Heimatmuseum Herrnhut – HMH 186

Herrnhut ist mit den großen Chorhäusern, der Kirche und den Schulgebäuden bis heute unverkennbar von der Brüdergemeine geprägt, wenn auch längst nicht mehr mit dieser identisch. "Vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts ist Herrnhut gewachsen und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sind durch die Fluchtbewegungen viele Menschen zugezogen. Wir haben in Herrnhut jetzt etwa 1.500 Einwohner, von denen 650 zur Gemeine gehören", so Wieland Menzel. Ein kleiner, aber bei Historiker·innen sehr gefragter Ort. "Zinzendorf hatte von Beginn an die Idee, dass man alles dokumentieren müsse", erklärt Archivarin Claudia Mai. So hat sich nicht nur der Weinstock, sondern ein reicher Fundus an Dokumenten erhalten, darunter Protokollbände, Memorabilien der Gemeinden und Missionsstationen, Mitgliederverzeichnisse, "Gemein-Nachrichten" und "Gemein-Diarien". Und die Herrnhuter Losungsbücher.

Losungsbücher als Exportschlager

Am 3. Mai 1728 gab Zinzendorf beim täglichen Abendgottesdienst seiner Gemeinde einen Vers für den kommenden Tag mit auf den Weg. "Die Gemeinde mochte das", erklärt Claudia Mai, "und bald wurde täglich eine solche Losung ausgegeben." 1731 wurde das erste Losungsbuch gedruckt, mit jeweils einer Losung für jeden Tag des Jahres. Diese Losungsbücher erscheinen seither durchgehend Jahr für Jahr. Sie sind – neben den als Anschauungsobjekt im Mathematikunterricht entstandenen Herrnhuter Weihnachtssternen – der Exportschlager der Brüdergemeine. Noch zu Lebzeiten Zinzensdorfs gab es Übersetzungen ins Niederländische, Französische, Englische und Tschechische. Heute gibt es sie in über 60 Sprachen, von Afrikaans über Farsi, Isländisch, Miskito, das an der Ostküste von Nicaragua und Honduras gesprochen wird, und Tok Pisin aus Papua Neuguinea bis Vietnamesisch.

Losungsbuch
Die unterschiedlichen Papiere der Losungsbücher galt es vor der Entsäuerung zu analysieren. © Evangelische Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine, Unitätsarchiv

Der Kern einer solchen Losung ist ein kurzer Text aus dem Alten Testament. Diesem wird ein Lehrtext aus dem Neuen Testament und ein weiterer erklärender, sogenannter Dritttext beigefügt. "Die Verse aus dem Alten Testament werden einmal im Jahr ausgelost, jeweils für ein Jahr, jeweils drei Jahre im Voraus", erklärt Claudia Mai. Ein·e Losungsbearbeiter·in oder ein Kreis von Bearbeiter·innen wählt dann für die deutsche Ausgabe die Zweit- und Dritttexte aus. Wer die Losungen in andere Sprachen übersetzen und herausgeben möchte, kann dies bei der Unitätsdirektion beantragen. Manche übersetzen alle drei Texte, andere übernehmen nur den Vers aus dem Alten Testament und ergänzen eigene Verse. Es gibt die Losungen immer in einer preisgünstigen Basisausgabe, aber auch in Schmuckausgaben, in Großdruck, als Kalender, in moderner Sprache für junge Leute, in Blindenschrift, auf CD und natürlich auch als App. So ist über die Jahrhunderte eine bunte Vielfalt erwachsen und die Sammlung all dieser Schriften liegt im Archiv der Brüder-Unität. "Wir bemühen uns sehr, von möglichst vielen Ausgaben Belegexemplare zu bekommen, und wir nehmen an, dass wir die größte und umfassendste Sammlung an Losungen haben", erklärt Claudia Mai. Im modernen klimatisierten Magazin des Archivus Unitatis Fratrum sind vier Regale vom Boden bis zur Decke voll von ihnen: Kleine, alte Büchlein mit handbeschriebenem Rücken aus der Frühzeit der Gemeinde, golden gefasste russische Kalender, grellbunte Ausgaben aus China oder Vietnam. Konservatorisch ist das eine Herausforderung. Problematisch sind weniger die ganz alten Schriften als diejenigen, die zwischen etwa 1850 und 1990 entstanden, den Jahren, in denen säurehaltiges Holzschliffpapier verwendet wurde. Sie litten unter Säurefraß. Um diesen Bestand zu retten, wurden in einem ersten, von der KEK geförderten Projekt Zeitschriften der Brüdergemeine und die betroffenen deutschen Losungsbücher entsäuert. "Bei Papieren, die auf der ganzen Welt hergestellt wurden, wussten wir allerdings nicht, womit wir es genau zu tun haben", erklärt Mai.

Saure Papiere aus aller Welt

Diese Losungen wurden erst einmal zurückgestellt und in einem zweiten Projekt von Spezialist·innen daraufhin geprüft, ob sie für eine Massenentsäuerung infrage kommen. Das Ergebnis war positiv: Die Papiere unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der deutschen Ausgaben. "Das Problem waren eher die Einbände. Manchmal sind die aus Plastik oder mit Folien oder Metall bezogen. Diese würden bei der Entsäuerung leiden", so Mai. Solche Exemplare wurden teils nicht behandelt, teils wurden die Umschläge entfernt und nach der Entsäuerung des Textkörpers wieder angebracht. Unikate, bei denen sich die Expert·innen nicht ganz sicher waren, wurden nicht entsäuert. Bei einzelnen empfindlichen Exemplaren wurden leere Seiten zwischen die Druckseiten gelegt, um zu verhindern, dass die Druckfarben von einer Seite auf eine andere abklatschen und so beide Seiten verderben.

historisches Schriftgut
Diese Schrift der Brüdergemeine, die schon 2018 entsäuert wurde, stammt aus dem lateinamerikanischen Suriname. © Evangelische Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine, Unitätsarchiv

Im Rahmen eines dritten Projekts wurden die Losungsbücher, die ihren Weg aus aller Welt zurück nach Herrnhut gefunden hatten, dann in einem Mengenverfahren entsäuert. Ein Unterfangen, das mit größeren logistischen Herausforderungen verbunden war: "Wir mussten extrem aufpassen, nichts durcheinanderzubringen", berichtet Mai. "In vielen der Losungsbücher finden Sie keinen einzigen lateinischen Buchstaben. Wenn Sie nicht mehr wissen, wo ein Band gestanden hat, haben Sie ein echtes Problem." Inzwischen sind die behandelten Bände aber erfolgreich zurückgestellt. "Insgesamt etwa 36 Meter an Losungsbänden tragen jetzt einen Stempel auf der letzten Seite, der Jahr und Verfahren der Entsäuerungsbehandlung angibt." Auch dieses Erhaltungsprojekt wird beim Herrnhuter Stadtjubiläum eine Rolle spielen: Bei einer internationalen Konferenz der Archivar·innen aus den Provinzialarchiven der Unität wird es um Restaurierung und Bestandserhaltung gehen – unter anderem durch Massenentsäuerung.

"Das war schon ein Abenteuer"

"Uns war klar, dass die Massenentsäuerung auch Nebenwirkungen haben kann", sagt Mai und weist auf ein Regal, in dem ganz unten einige wenige Bände separiert stehen. Bei einem ist die Folie des Umschlags etwas verknittert, eines hat eine Verfärbung auf der Rückseite, bei einem gibt es einen Abklatsch, doch die gegenüberliegende Seite war weiß, man kann den Text nach wie vor lesen. "Insgesamt ist sehr wenig von dieser Art passiert und die beschädigten Bände stammen alle aus der Zeit nach 1980, die können wir auch noch einmal beschaffen", erklärt Mai und resümiert: "Es war nicht so, dass man sich mit diesen Maßnahmen hätte Zeit lassen können. Ich bin mir sicher, dass unsere Entscheidung richtig war."

Claudia Mai blickt auf die KEK-Projekte als eine spannende Zeit zurück: "Das war schon ein Abenteuer, wir haben uns Stück für Stück in die Möglichkeiten der Papiererhaltung eingearbeitet und sind froh, dass wir jetzt Ansprechpartner·innen haben und wissen, an wen wir uns auch mit weiteren Fragen wenden können. Vor allem aber können wir den Weinstock und die Losungsbücher so ins nächste Jahrhundert retten."